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Die Situation von pflegenden Angehörigen
In Deutschland werden mehr als zwei Drittel aller pflegebedürftigen Familienmitglieder zu Hause versorgt. Dies trifft auch zu, wenn eine Demenzerkrankung vorliegt. Die Pflege wird dabei überwiegend von Frauen geleistet (nahezu 70 %) – von Ehepartnerinnen, die meist selbst hoch betagt sind und von (Schwieger-)Töchtern, die vor der Aufgabe stehen, Pflege, eigene Familie und Berufstätigkeit zu vereinbaren.
Die Motive für die Entscheidung, ein Familienmitglied zu pflegen, sind vielfältig und meist sind mehrere Gründe ausschlaggebend: z.B. der gemeinsame Lebensweg, die Beziehung zum Erkrankten und die daraus erwachsene emotionale Bindung. Außerdem spielen Verantwortungs- und Pflichtgefühle oder aber gesellschaftliche Normen eine Rolle. Von der Ehefrau oder der Tochter, die in der Nähe wohnt, erscheint es – nicht nur für das Umfeld – nahezu selbstverständlich, dass sie die Pflege übernehmen. Weitere Gründe sind religiöse Motive oder eher pragmatische Überlegungen, wie finanzielle Notwendigkeiten oder die strikte Ablehnung einer Heimunterbringung durch die Erkrankten. Bei der Übernahme der Pflege durch erwachsene Kinder kommt als Motivation auch Dankbarkeit dazu, den Eltern etwas von der Fürsorge und Liebe „zurückgeben zu wollen“.
Frau Albrecht lebt mit ihrer Familie nur wenige Häuserblocks von ihrer Mutter entfernt. Sie und ihr Mann beschließen, die (Schwieger-) Mutter zu versorgen. Die Kinder Marie, 12 Jahre und Tobias, 15 Jahre, wollen mithelfen. Sie beschließen, ihre Großmutter jede Woche einmal am Nachmittag nach der Schule zu besuchen, um mit ihr z.B. „Mensch ärgere Dich nicht“, zu spielen. Marie will auch für ihre Oma Bilder malen und mit ihr Fotos anschauen.
Belastungen
Mit der Übernahme der Pflege verbinden Angehörige meist die Vorstellung, bei körperlichen Beschwerden Unterstützung zu leisten, hauswirtschaftliche Tätigkeiten zu übernehmen und für das Essen zu sorgen. Auf die zunehmende Veränderung der Persönlichkeit und die spezifischen Begleiterscheinungen einer Demenz sind sie in der Regel nicht vorbereitet, auch nicht darauf, dass sich auch ihr eigener Alltag so grundlegend ändert.
Ohne Unterstützung von außen geraten pflegende Angehörige von dementiell erkrankten Menschen daher schnell in eine Überforderungssituation. Als besonders belastend schildern Angehörige das Gefühl, Rund-um-die-Uhr da sein zu müssen, die Veränderung der Persönlichkeit, wichtige Entscheidungen für einen erwachsenen Menschen treffen zu müssen und keine Zeit mehr für sich zu haben.
Studien zeigen, dass der Medikamentenkonsum bei den Hauptpflegepersonen im Vergleich zu gleichaltrigen Nicht-Pflegenden signifikant höher ist.
Mit der Zeit verschlechterte sich der Gesundheitszustand von Frau Meyer. Sie will nun nicht mehr allein bleiben und klammert sich an ihre Tochter, wenn diese gehen will. Als Frau Meyer eine Grippe bekommt, entschließt sich ihre Tochter, einige Tage bei ihr einzuziehen.
Herr Albrecht macht sich Sorgen über diese Entwicklung „Das halten wir auf Dauer nicht durch. Wir haben kaum mehr Zeit für uns“, sagt er zu seiner Frau, die sehr erschöpft wirkt. Frau Albrecht gesteht sich ein, dass sie die Pflege und Betreuung rund um die Uhr sehr belastet. Kaum merklich hat sie immer mehr Aufgaben für ihre Mutter übernommen: Sie kauft für sie ein, kocht und putzt die Wohnung. Jeden Morgen geht sie zu ihrer Mutter und hilft ihr beim Waschen und legt ihr die Kleidung bereit. Sie schaut die Post durch und regelt die finanziellen Angelegenheiten. Sie hat dafür von ihrer Mutter eine Vorsorgevollmacht erhalten.
Doch noch etwas anderes macht Frau Albrecht zu schaffen: mitanzusehen, wie stark sich ihre Mutter verändert. Sie hat sich immer gut mit ihrer Mutter verstanden, doch in letzter Zeit kommt es häufig zu Streit. Es scheint so, als ob sich ihre eigene Erschöpfung und Ungeduld auf ihre Mutter überträgt. Sie spürt, dass sie sich öfters „zwingen“ muss, bei ihrer Mutter vorbei zu schauen.
Auch Marie und Tobias wirken überfordert. Marie hätte gerne ihre Mutter mehr für sich „Du bist so wenig zuhause“, beklagt sie sich. Tobias dagegen ist genervt und will nicht mehr zu seiner Oma gehen: „Oma schummelt immer beim Spielen und dann steht sie einfach auf und will nicht mehr weiterspielen. Sie hat auch immer etwas zu meckern.“
Zeichen von Überforderung erkennen
Zeichen von Überforderung und Stress sollten Pflegende sehr ernst nehmen. Sie weisen darauf hin, dass die Balance zwischen Fürsorge für die Erkrankten und für sich und die eigene Familie nicht mehr gegeben ist. Das wirkt sich auch störend auf die Beziehung aus. Bei Überlastung besteht dringender Handlungsbedarf: Es muss sich etwas ändern, es braucht Unterstützung von außen. Andernfalls besteht die Gefahr, dass Angehörige zunehmend ungeduldiger mit den Erkrankten werden und es zu einem Teufelskreis zwischen Streit und Schuldgefühlen kommt. Angehörige werden selbst krank.
Beratung und Unterstützung annehmen
Angehörige können sich z.B. an Beratungsstellen wenden. Diese informieren über Entlastungsangebote und helfen dabei, die passende Unterstützung zu finden. So können Pflegende wieder auftanken – der erste Schritt, damit sich die Situation wieder entspannen kann.
Der Arzt sieht, dass Frau Albrecht sehr erschöpft ist und gibt ihr die Adresse einer Alzheimer-Beratungsstelle. Frau Albrecht lässt sich beraten und erhält Informationen über die Krankheit, aber auch, dass es die Möglichkeit gibt, einen Antrag auf Leistungen aus der Pflegeversicherung zu stellen. Damit kann sie die dringend benötigte Unterstützung finanzieren. Frau Albrecht wird in dem Gespräch bewusst, wie sehr sie es vermisst, mal wieder Zeit für sich zu haben und eigenen Hobbies nachgehen zu können. Auch ihre eigene Familie braucht sie. Sie erfährt, dass es anderen pflegenden Angehörigen ähnlich ergeht. Sie fühlt sich nicht mehr so schuldig. Das stärkt sie und sie ist fest entschlossen, Unterstützung zu organisieren: Sie muss nicht alles alleine schultern.
© Michael Hagedorn