Leben mit Demenz

Menschen mit Demenz wünschen sich, möglichst lange selbständig zu bleiben. Sie finden sich in ihrer vertrauten Umgebung meist noch gut zurecht und wollen möglichst normal leben: Sport treiben, im Chor singen, Theater spielen, in Museen gehen, in Urlaub fahren … und sie möchten bei alltäglichen Aufgaben einbezogen bleiben. 

Doch dies verläuft nicht immer reibungslos. Die Krankheit verändert die Wahrnehmung 

Veränderung der Wahrnehmung 

Wir lernen ständig: Unser Gehirn speichert und ordnet alle Informationen und Erfahrungen in unserem Gedächtnis. Auf dem Gelernten bauen alle neuen Informationen und Erfahrungen auf – ohne dass uns dies immer bewusst ist. Neue Inhalte werden abgeglichen, „eingebaut“, verworfen etc. Dies hilft uns, uns zu orientieren und uns zurecht zu finden. 

Eine Demenzerkrankung bringt diese Struktur durcheinander. Man kann es sich bildlich so vorstellen: Ein Regal fällt um und der Inhalt der Ordner fällt heraus – nicht auf einmal, sondern immer wieder einer. Im Laufe der Zeit wird das Durcheinander immer größer und erfordert längeres Suchen, um das gewünschte Dokument zu finden. 

Menschen mit Demenz erleben, dass Worte oder Ereignisse in einem Moment erinnert werden, in einem anderen Moment nicht mehr „vorhanden“ sind. Sie kennen zwar den Weg, aber plötzlich „fühlt“ sich alles fremd an. 

Grundsätzlich gilt: 

  • Inhalte, die vor längerer Zeit abgespeichert wurden und die emotional bedeutsam sind, bleiben länger erhalten im Vergleich zu erst kürzlich erworbenem Wissen. 
  • Erfahrungen aus der Vergangenheit können als real erlebt werden – so erleben Menschen mit Demenz, dass sie zur Arbeit müssen, obwohl sie schon mehrere Jahre in Rente sind.  
  • Die Fähigkeit, Stimmungen und Emotionen anderer wahrzunehmen, bleibt erhalten. Menschen mit Demenz (insbesondere Alzheimerkrankte) nehmen einfühlsam Stimmungen ihres Gesprächspartners/ihrer Gesprächspartnerin wahr.


Einige Beispiele:

„Gefällst du dir?“, fragt Frau Albrecht ihre Mutter, nachdem sie sie frisiert hat, um mit ihr spazieren zu gehen. Sie stehen vor einem großen Spiegel im Flur. Frau Meyer fragt zurück: „Wer ist denn diese alte Frau? Was will sie hier?“ Frau Meyer erkennt sich selbst nicht mehr. 

Frau Franzen liebt Blumen. Sie versucht nun die Blumen, die als Muster auf den Teppich gedruckt sind, zu pflücken. In dem Teppichmuster erkennt sie Blumen, doch sie realisiert nicht mehr, dass sie nicht echt sind. 

Herr Adler ist gestürzt und hat sich am Bein Schürfwunden zugezogen. Da er sich an den Sturz nicht mehr erinnern kann, antwortet er auf die Frage seiner Tochter, wie dies passiert sei, dass er beim Bergsteigen ausgerutscht sei.
Für Herrn Adler ist dies eine logische Erklärung, da das Bergsteigen sein Hobby war und eine Verletzung dabei schon mal vorkam. Für die Tochter ist die Erklärung dagegen in keiner Weise logisch, da Herr Adler 87 Jahre alt ist und sein Hobby schon vor langer Zeit aufgeben musste. Herrn Adler damit zu konfrontieren, dass das gar nicht der Fall sein kann, würde er nicht verstehen. In seiner Welt und in seinem Erleben stimmt seine Version. Er hat an den Vorfall als solchen keine Erinnerung mehr, daher greift er auf alte Erfahrungen zurück – es ist seine subjektive Realität.

Menschen mit Demenz wollen ihren Alltag so lange wie möglich selbständig meistern. Daher versuchen sie, mit den Auswirkungen der Krankheit kreativ umzugehen. 

Menschen mit Demenz versuchen, ihre Selbständigkeit möglichst lange aufrecht zu erhalten, indem sie

  • Tätigkeiten vereinfachen
    Gewohnte Tätigkeiten, wie sauber machen, spazieren gehen, im Garten arbeiten, geben Sicherheit. Jedoch werden die Tätigkeiten vereinfacht: z.B. wird immer die gleiche, vertraute Runde zum Spazierengehen gewählt, gekocht werden einfachere Rezepte, Rasenmähen ist noch lange beliebt.

     

  • Überforderung meiden
    Tätigkeiten, die überfordern, werden gemieden, wie z.B. Öffnen und Sortieren der Post, Bankgeschäfte online abwickeln etc.
    Viele Betroffen äußern auch: „Alles braucht mehr Zeit“.

     

  • Gedächtnislücken überspielen
    Dabei „ertappt“ zu werden, den Termin vergessen, oder die Frage schon zum dritten Mal gestellt zu haben, ist unangenehm und löst bei den Betroffenen Stress und Ängste aus. Daher versuchen Menschen mit Demenz ihre Gedächtnisprobleme zu überspielen: „Klar, weiß ich das noch!“ oder ihnen weniger Bedeutung beizumessen: „Jeder kann mal was vergessen“ oder auch – in ihrer Not – andere zu beschuldigen, dass sie z.B. den Geldbeutel, die Schlüssel weggenommen haben. Sie wollen niemanden damit verletzen, sondern sie haben keine Erinnerung mehr daran, wann und wo sie den Geldbeutel zum letzten Mal gesehen haben. Daher ist die Erklärung, dass ein anderer den Geldbeutel genommen hat, für sie die naheliegendste.

  • Hilfsmittel nutzen
    Viele Menschen mit Demenz versuchen sich zu behelfen und schreiben sich alles auf.  So kann es sein, dass an Schränken und Türen Zettel kleben mit wichtigen Nachrichten.


Frau Meyer will zu ihrem Frisör. Sie macht sich zu Fuß auf den Weg. An der Straßenkreuzung weiß sie plötzlich nicht mehr, ob sie nach links oder geradeaus gehen muss. Alles kommt ihr fremd vor, obwohl sie schon seit Jahren zu dem gleichen Frisör geht und sie schon oft diesen Weg gegangen ist. Es ist ein schrecklicher Moment für sie. 

Ein Passant spricht sie an – und fragt, ob sie Hilfe brauche. Sie nennt ihm die Straße und er zeigt ihr den Weg. Im Gehen lässt die Irritation bei Frau Meyer nach und sie findet sich wieder zurecht. 

Beim nächsten Mal findet sie den Weg auf Anhieb und ohne Probleme. Wenn sie sich an die Situation an der Kreuzung erinnert, ist ihr immer noch schleierhaft, wie so etwas passieren konnte. Doch seither trägt sie einen Zettel bei sich, auf dem sie die Adresse und den Weg notiert hat. Damit fühlt sie sich sicherer.

  • Viel Zeit mit Suchen verbringen
    Menschen mit Demenz haben keine Erinnerung mehr daran, wo sie Gegenstände hingelegt haben. Sie wollen z.B. Einkaufen und dann haben sie den Impuls, noch etwas zu trinken. Sie nehmen den Saft aus dem Kühlschrank und der Geldbeutel wandert in den Kühlschrank. Dies geschieht nicht „gezielt“ und so haben sie keine Erinnerung daran, wo der Geldbeutel geblieben ist.

     

  • Umschreibungen wählen
    Menschen mit Demenz wollen etwas sagen, doch das Wort fällt ihnen nicht ein. Sie versuchen dann, das Wort zu umschiffen. Ein Beispiel: Eine alte Dame wird gefragt, wo der Papst wohnt. Sie antwortet, dass man das nicht so genau wisse, da er doch sehr viel verreise.

     

  • Sich zur Wehr setzen
    Menschen mit Demenz werden von ihrer Umwelt häufig mit ihren Defiziten konfrontiert: „Das habe ich Dir doch gerade schon gesagt …“ „Mama, du  musst duschen!“ „Du bist so vergesslich!“ „Kochen ist zu gefährlich!“ „Du kannst nicht mehr alleine bleiben“. Sie setzen sich zur Wehr: „Ich mache alles noch selber. Ich bin nicht krank. Ich brauche keine Hilfe!“

Menschen mit Demenz wurden gefragt, was sie sich wünschen. Als ein zentraler Wunsch kristallisierte sich heraus: Das Bild der Demenz müsse sich in der Gesellschaft ändern. Es wird noch viel zu viel auf die Defizite geschaut. In ihrem Statement beim 30jährigen Jubiläum der Deutschen Alzheimer Gesellschaft formulierte eine Betroffene es so: ‚Ja, ich kann vieles nicht mehr so wie früher. Doch ich bin immer noch eine gute Mutter, ich liebe meine Kinder und ich bin immer für sie da.‘ 

Teilhabe – mitten im Leben bleiben

Viele Menschen ziehen sich aufgrund ihrer Demenzdiagnose aus dem gesellschaftlichen Leben zurück. Dies kann zwei Gründe haben: einerseits die Angst, Fehler zu machen und andererseits das fehlende Verständnis des Umfeldes. Menschen mit Demenz wird oft der eigene Wille bzw. die eigene Entscheidungsfähigkeit abgesprochen. Fürsorge und Hilfe stehen im Vordergrund. 

Menschen mit Demenz wollen dazugehören, mit-entscheiden, das Gefühl haben, dass mit ihnen und nicht über sie geredet wird, dass sie, solange es ihnen möglich ist, aktiv sein und Sinnvolles tun können.

Eingebundensein erhöht das Wohlbefinden und trägt entschieden dazu bei, die Erkrankung zu bewältigen. Solidarität und Mitmenschlichkeit sind Grundvoraussetzungen in unserer Gesellschaft, um die Ziele der UN – gemäß der Behindertenrechtskonvention – umzusetzen. Die Konvention fordert Inklusion, die gleichberechtigte Teilhabe am gesellschaftlichen Leben für alle Menschen. Dies ist ein Menschenrecht.

Eine Behinderung wird dabei nicht als Eigenschaft eines Menschen definiert. Sie entsteht in der Wechselwirkung von Funktionseinschränkungen und einstellungs- bzw. umweltbedingten Barrieren. Diese gilt es zu überwinden und den Menschen selbst zu sehen.  

Ein Schritt in die richtige Richtung ist, die Menschen mit Demenz für sich selbst sprechen zu lassen und sie mit ihren Ressourcen einzubinden. Beispiele hierfür sind:

  • Mitgestaltung von Gottesdiensten.
  • Vorträge z.B. in Schulen zu organisieren, in denen Menschen in einem frühen Stadium über ihre Krankheit sprechen.
  • Begegnungen schaffen, indem Vorleseaktionen, gemeinsame Freizeitaktivitäten oder Vereinsveranstaltungen organisiert werden.


Es geht um ein soziales Eingebundensein. Einige Aktionen wurden dazu schon deutschlandweit gestartet z.B. „Demenzfreundliche Kommunen“ oder „Lokale Allianzen für Menschen mit Demenz“. Alle Aktionen eint der Kerngedanke der Teilhabe von Menschen mit Demenz und ihren Angehörigen. Dies ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe und diese kann nicht früh genug zum Thema gemacht werden. Wir lernen dabei Unterschiedlichkeit und Vielfalt wahrzunehmen und zu akzeptiere und sozialen Zusammenhalt zu stärken.

Dass ich Demenz habe, ändert nichts dran, dass ich ein Mensch bin. Ich bin ein vollständiges menschliches Wesen und bleibe das bis zu dem Tag, an dem ich sterben werde.

Es gibt ein Leben nach der Diagnose. ... Anfangs fiel ich in ein Loch. Doch jetzt traue ich mir Dinge zu, die ich vorher nicht gemacht hätte.